„Sie wollten mich noch mal sprechen, Frau Nagel.“ „Mist“, dachte sich Rita, sie hätte vermutet, dass es Hannes vergessen würde. Immerhin war es bereits zehn Minuten her, dass sie ihn für das Ende der Stunde vorzitiert hatte. Naja, was soll’s. Dann würde sie dem kleinen Frechdachs eben kurz den Kopf waschen. „Du weißt, warum ich mit Dir sprechen möchte?“ – „Wegen dem Ben?“ kam die Antwort, halb fragend, halb verteidigend. „Könntest Du das präzisieren?“ hakte Rita nach. Der Kleine wurde hibbelig, offensichtlich wollte er nicht zu viel von der Pause verpassen. „Na weil ich mich mit ihm genervt habe.“ „Hannnnes.“ Wenn ihr Ton ernst wurde, betonte sie Namen gerne besonders lang. „Du hast Ben einen Bleistift in den Oberschenkel gerammt.“
Verdammt, die Alte hat ganz schön gute Augen, dachte sich Ben. Hätte er ihr gar nicht zugetraut. „War aber gar nicht so schlimm.“ erwiderte er. „In den Oberschenkel!“ wiederholte sie langsam und scharf. Er schwieg. „Durch die Jeans hindurch.“ Er schwieg. „Und dann abgebrochen, so dass die Spitze im Bein stecken blieb.“ Rita kannte Hannes. Ihr Ton war vorwurfsvoll gewesen, dennoch war jetzt nicht direkt zu erwarten, dass er in Tränen ausbrechen würde. „Aber, aber, …er hat mich vorher geärgert.“ „Hannes.“ ermahnte sie. „Er hat meine Mutter beleidigt.“ – „Hannes! Überleg Dir genau, was Du da gemacht hast. Und überleg Dir ebenso genau, was Du jetzt sagst.“ So langsam wäre es schon nicht schlecht, wenn sich erste Ansätze von Reue oder wenigstens ein bisschen Unrechtbewusstsein zeigen würden. Sie setzte noch einmal an: „So können wir das auf keinen Fall stehen lassen. Es muss Konsequenzen haben.“ – Auf dem Ohr war Hannes eingeschränkt aufnahmefähig. „Er hat gesagt, mein Vater ist eine Kanalratte und meine Mutter ein kremiger Kackfurz.“ – Die Wortwahl brachte Rita leicht ins Schleudern. „Öh… Du willst also sagen, dass Du gute Gründe hattest, es Deinem Banknachbarn heimzuzahlen.“ – „Ja genau.“ Jetzt wusste er genau, wo die Reise hinging. „Ich wollte ja meine Ruhe, aber der hat mich nur geärgert. Der ärgert mich sowieso immer. Ich hab’s ihm dauernd gesagt, aber der hört einfach nicht auf. Und dann hat er mich ständig beleidigt. Was soll ich machen? Kann ich jetzt in die Pause?“ Es half nichts. Hannes war stur. Ihr blieb nur noch eine Möglichkeit.
„Das war wirklich nicht nett von Dir. Ihr seid doch eigentlich Freunde. So etwas solltest Du nicht noch einmal machen. – „Ja, okay.“ – „Du kannst jemanden böse verletzen mit einem Bleistift. Ich möchte, dass Du in Zukunft vorsichtiger bist.“ – „Ja, okay.“ – „Außerdem wäre es schön, wenn Du noch einmal mit Ben redest und Dich entschuldigst.“ – „Ja, okay.“ – „Dann muss ich Dir ehrlich sagen, dass ich ein wenig enttäuscht von Dir bin.“ – „Ja, okay. Kann ich jetzt gehen?“ Das klang nur wie eine Frage. Hannes, der bereits seit Minuten auf der Stelle hüpfte, hielt es nicht mehr. Rita wollte noch einmal ansetzen, aber der Sechstklässler war bereits mit einer Art springendem Sprint zur Tür hinaus.
Rita blickte ihm lange hinterher. Sie war zufrieden. Manche Schüler brauchen einfach eine starke Führung, aber dafür war sie da und irgendwann später in ihrem Leben werden sie von diesen Lektionen profitieren. Sie verstaute die restlichen Unterlagen in ihrer Ledertasche und verließ mit einem inneren Lächeln das Klassenzimmer.